Politik

Stolpersteine gegen das Vergessen

Zum Gedenken an die Opfer von Verfolgung


Gunter Demnig beim Verlegen eines Stolperstein (Quelle: heldmann-images)
Den Opfern einen namen geben: Stolpersteine
(Quelle: heldmann-images)
GDN - Seit 1996 erinnert der Künstler Gunter Demnig an die Opfer des Nationalsozialismus, indem er vor ihrem letzten selbstgewählten Wohnort Gedenktafeln aus Messing, eben die “Stolpersteine“, ins Trottoir einlässt. Inzwischen liegen mehr als 40.000 dieser Gedenksteine in über 1000 Orten in Europa.
Gunter Demnig
Quelle: heldmann-images
Auf Messingplatten werden Namen, Geburts- und Todesjahr mit Schicksalsangaben eingelassen. Die Platten mit ihrer Inschrift werden per Hand hergestellt, “Fräsen kam für mich nicht in Frage, das wäre eine industrielle Fertigung und würde mich zu sehr an die indtrielle Vernichtung von Menschen in Auschwitz erinnern.“, erläuterte Demnig in Kassel. Jedes Opfer erhält einen persönlichen Stein. Auslöser für diese Form der Erinnerung war für Gunter Demnig eine Erfahrung, die er anlässlich einer anderen Erinnerungsaktion in Köln gemacht hatte. Damals, so berichtete der Künstler im Gespräch mit dem Autor, habe er zum Gedenken an die Deportation von 1000 Sinti und Roma aus der Südstadt Köln eine Kreidespur von dort zur Messe Deutz, die einst als Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald diente, gezogen. “Diese Deportation von 1000 Menschen binnen einer Nacht war die Generalprobe für die massenhafte, später folgende Deportation der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger“, meint Demnig. Als eine ältere Dame in damals mit der Bemerkung ansprach, “Hier in der Südstadt gab es doch gar keine Zigeuner!“, sei ihm bewusst geworden, wie wichtig es ist, an die der Verfolgung zum Opfer gefallenen Menschen an ihren früheren Wohnsitzen zu erinnern.
Jochen Boczkowski und Gunter Demnig
Quelle: heldmann-images
An diesem Wochenende wurden in Kassel neunzehn weitere Steine verlegt. Den ersten in Kassel legte der Künstler 2011 für Traugott Eschke. Anfang des Jahres wurden schon einmal zehn Stolpersteine gesetzt. Unterstützt wird diese Form des Kunstdenkmals vom Verein “Stolperseine in Kassel e.V.“. “Die Steine bilden quer durch Deutschland und Europa ein großes dezentrales Denkmal gegen Intoleranz und Rassenhass“, beschreibt Jochen Boczkowski, der Vorsitzende des Vereins, die Bedeutung dieser beispiellosen Initiative. “Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“, zitiert Gunter Demnig den Talmud. Mit den Steinen vor den Häusern wird die Erinnerung an die Menschen lebendig, die einst hier wohnten. Die Opfer des Nationalsozialismus wurden verfolgt, weil sie Juden, Sinti und Roma, Sozialisten, Kommunisten oder andere politische Gegner des Regimes waren, weil sie Zeugen Jehovas, homosexuell waren oder sie fielen der Euthanasie zum Opfer. “Wir möchten beispielhaft an einige dieser Menschen erinnern und so mit dazu beitragen, die Erinnerung wachzuhalten.“
Nachfahren von Ruth Elias beim Gedenken
Quelle: heldmann-images
Familie Elias Burghardt, Schillerstraße 38 In der Schillerstraße 38 in Kassel-Mitte wurde der Familie Elias Burghardt gedacht. Martha Elias (1895-1944) und Otto Max Elias (1897-1944) lebten dort bis 1933 mit ihren Eltern Bertha Elias (1871-1943) und Julius Elias (1866-1932). Sie hatten in Kassel ein Sportgeschäft, auf das es im April 1933 einen antisemitischen Angriff gab. Danach wanderten Bertha, Otto und Martha mit deren Tochter Ruth Marion Pauline in die Niederlande aus. 1943 wurde die gesamte Familie von dort in die Konzentrationslager Auschwitz, Sobibor und Theresienstadt deportiert, wo sie ermordet worden sind; nur die Tochter Ruth konnte in Holland überleben. Sie verließ Europa 1946 und starb 2006 in Zürich.
Stolpersteine für Familie Elias Burghardt
Quelle: heldmann-images
Nachfahren von Ruth Elias leben heute wieder in Europa in der Schweiz und in Frankreich. Einige von ihnen waren bei der Verlegung der Stolpersteine in Kassel dabei. Diana Hornung verließ einen Brief, den Otto Elias seiner Tochter Ruth kurz vor der Deportation geschrieben hatte. Dies war sicher der bewegendste Moment an diesem regnerischen Novemberabend in der Kasseler Schillerstraße. Wenn man heute um das Schicksal dieser Familie weiß, berührt es sehr, zu hören, dass sie im Wissen um die bevorstehende “Abreise nach Theresienstadt“ die Hoffnung auf eine Wiedersehen nicht aufgegeben hatten. Dass Ruth Elias auch nach ihrer Rückkehr die deutsche Sprache nicht mehr liebte und dass sie immer Angst um ihre Familie hatte, vermag nach diesem Schicksal nicht zu erstaunen. Trotzdem, so erzählen ihre Angehörigen, konnte sie lachen, bis ihr die Tränen kamen. Sie gab den Menschen um sich herum das Gefühl, geliebt zu werden und wertvoll zu sein.
Gedenken an Konrad Belz
Quelle: heldmann-images
Konrad Belz, Henkelstraße 13 Ein anderer Stolperstein wurde am Sonntag in der Henkelstraße 13 in der Nordstadt gesetzt. Mit ihm wird, im Beisein seiner Schwiegertochter Hertha Belz und der Enkelkinder Lothar Belz und Vera Müller, Konrad Belz gedacht, der mit seiner Familie in diesem Haus lebte. Er wurde als Kommunist politisch verfolgt und starb 1936 an den Folgen der Misshandlungen durch die Nationalsozialisten. Einer seiner Söhne, Willi Belz, überlebte Verfolgung, Verhaftung und Konzentrationslager. Er hat später mehrere Bücher veröffentlicht. Aus einem davon ist der folgende Text auszugsweise entnommen: “Sonntagnachmittag. Mutter B. schneidet den Streuselkuchen für ihre drei Rangen auf. Achtzehn, sechzehn und acht Jahre sind sie jung. “¦ Plötzlich schrillt die Türklingel, aufdringlich, mehrmals hintereinander. Mütter und Söhne sehen sich erschrocken an. Wer kann das sein? “¦ Willi, der älteste Sohn, fasst sich ein Herz und geht, um die Flurtür zu öffnen. Zehn, zwölf, fünfzehn braune Gestalten, die Sturmriemen heruntergezogen, mit Pistolen in den Händen, dringen in die Wohnung ein.“
Nachfahren von Konrad Belz
Quelle: heldmann-images
Im Folgenden schildert Willi Belz die Durchsuchung der Wohnung und der Kellerräume. Erfolglos werden nach einer roten Fahne und Waffen geforscht. Dann schildert er weiter: “Das Rollkommando wartet in der Wohnung, um Vater Konrad B. in Empfang zu nehmen. “¦ Es ist noch Tag, als Konrad B. in seine Straße einbiegt. Er sieht viele Bewohner und Freunde diskutierend herumstehen. “¦ Nachbarn und Freunde warnen Konrad B. und raten ihm dringend, vor der SA zu fliehen. Konrad B. lehnt mit einer entschlossenen Handbewegung ab und geht auf seine Wohnung zu.“ Dort wird er, so schreibt sein Sohn später, gemeinsam mit diesem und dem sechzehnjährigen Sohn auf einen wartenden Lastwagen getrieben und unter dem Protest der Nachbarn zum Sitz der SA-Standarde 83 in die Kölnische Straße verschleppt.
Gedenken in der Kasseler Henkelstraße
Quelle: heldmann-images
“B. und seine Söhne müssen auf einem Flur der Zimmerflucht Platz nehmen. Sie werden fortgesetzt Tritten und Schlägen aus- und eingehender SA-Leute ausgesetzt. Dann wird Vater B. in ein Zimmer geholt “¦ Gleich danach hören (die Söhne) Gepolter, das Klatschen von Schlägen und die Schmerzens- wie Empörungsschreie des Vaters. “¦ Kurze Zeit später wird Vater B. aus Mund und Nase blutend weggeschafft. “¦ Wie sich anderntags herausstellt, wurde Konrad B. in die berüchtigten «Bürgersäle» geschleppt, über den «Bock» gelegt und weiter schwer geschlagen. Zwei Jahre später stirbt er an den Folgen der schweren Misshandlungen, während sein Sohn Willi sich im Konzentrationslager Lichtenburg befindet.“ (Willi Belz: Die Standhaften. Kassel 1978)
Vor dem Vergessen bewahren
Quelle: heldmann-images
“Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ (Artikel 1 des Grundgesetztes) Diese und die anderen Menschen, denen an diesem Wochenende in Kassel gedacht wurde, stehen mit vielen anderen, für die überall in Europa Stolpersteine in den Straßen liegen, in einer Kette von Opfern. Opfer, die nur deshalb ihr Leben verloren, weil sie “anders“ waren. Diese Kette ist - auch in Kassel - noch immer nicht geschlossen, wie der Mord an Halit Yozgat unweit der ehemaligen Wohnung von Konrad Belz ebenso zeigt wie der Hass und die Verachtung, die denen oft entgegenschlägt, die vor Verfolgung in Syrien oder anderswo fliehen müssen und in Deutschland Schutz suchen. An Menschlichkeit jedem gegenüber zu gemahnen, ist eine Lehre aus der Erinnerung an die unzähligen Opfer mitten unter uns. Mit den Stolpersteinen wird an sie ganz individuell erinnert. Ihr Leben kann ihnen nicht zurückgegeben, aber ihre Würde bewahrt werden.
Für den Artikel ist der Verfasser verantwortlich, dem auch das Urheberrecht obliegt. Redaktionelle Inhalte von GDN können auf anderen Webseiten zitiert werden, wenn das Zitat maximal 5% des Gesamt-Textes ausmacht, als solches gekennzeichnet ist und die Quelle benannt (verlinkt) wird.